A. Deycke u.a. (Hrsg.): Von der KPD zu den Post-Autonomen

Cover
Titel
Von der KPD zu den Post-Autonomen. Orientierungen im Feld der radikalen Linken


Herausgeber
Deycke, Alexander; Gmeiner, Jens; Schenke, Julian; Micus, Matthias
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsta Langner, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Der Titel des Buches verspricht nicht wenig: eine historische Betrachtung radikal linker Akteure von der Weimarer Republik bis in die jüngste Vergangenheit. Das Nachdenken über ein politisches Spektrum, das – auch in der Selbstdefinition – als „radikal links“ bezeichnet wird, hat dabei aktuelle gesellschaftliche Brisanz: Nach den Anschlägen in Halle und Hanau wurde 2020 Gewalt von „links“ medial zum Teil auf eine Stufe mit jenen antisemitisch, misogyn und rassistisch motivierten Mördern gestellt. So zog die „Welt“ durch das Bild einer Leipziger Studentin, die unter dem Verdacht „linksextremer“ Gewalt in Handschellen aus einem Polizeihelikopter stieg, nur allzu deutlich Parallelen zum Attentäter von Halle. Das macht die Auseinandersetzung mit Geschichte, Begriffen und Konzepten dessen erforderlich, was in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen als „radikale Linke“ bezeichnet wird.

Den Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes der „Bundesfachstelle für Linke Militanz“ des Göttinger Instituts für Demokratieforschung1 bildet eine Konferenz im Jahr 2017. Den aktualitätsbezogenen Referenzpunkt stellt daher der G20-Gipfel in Hamburg vom Juli 2017 dar; Ereignisse der letzten vier Jahre werden kaum aufgenommen. Der Herausgeberband versammelt nach der Einleitung fünfzehn Beiträge, die anlassbezogen das Thema „radikale Linke“ von verschiedenen Seiten und mit unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Der Untertitel des Bandes „Orientierungen im Feld der radikalen Linken“ konkretisiert, dass es sich nicht um Beiträge aus einer genuin zeithistorischen Perspektive handelt. In ihrem Einleitungskapitel umreißen die Herausgeber Alexander Deycke, Jens Gmeiner, Matthias Micus und Julian Schenke daher auch das eigene Forschungsfeld „zunächst in gleichsam tastenden Suchbewegungen“ (S. 9). Ob dabei ein „wenig erforschtes Terrain durchschritten und abgemessen“ wird (ebd.), ist jedoch fraglich. Sowohl die politologische als auch die zeithistorische Forschung, die sich mit der „radikalen Linken“ beschäftigt (besonders, aber nicht allein im Umfeld von „1968“), ist kaum zu überschauen. Und auch praxisbezogene Untersuchungen, die zu einem gewissen Teil auf präventionsorientierte Auftragsforschungen zurückgehen, haben in den letzten Jahren kontinuierlich auf aktuelle Entwicklungen hingewiesen.2

Der Band unterteilt sich in vier thematische Kapitel, wobei das erste mit drei Beiträgen von Wolfgang Kraushaar, Maximilian Fuhrmann und Peter Imbusch recht klassisch in „Grundlagen – Konzepte – Begriffe“ einführt. Im anschließenden Kapitel „Historische Einordnung: Linksradikalismus und linke Militanz“ schreibt Marcel Bois über die Zeit der Weimarer Republik sowie Hubert Kleinert über Linksradikalismus und Gewalt in der Bundesrepublik 1945–1990. Der Band umreißt dann in sieben Einzelbeiträgen „Deutsche Fallbeispiele“ für die Städte Hamburg, Berlin, Leipzig und Göttingen sowie „Europäische Fallspiele“ aus der Schweiz, Italien und Schweden. Den Abschluss bilden unter der Kapitelüberschrift „Kontinuitäten und Wandlungen“ drei sehr divergente Beiträge, die zum einen „Antisemitismus in der politischen Linken“ nachzeichnen, zum anderen „Antifaschismus in Ostdeutschland“ historisieren. Ganz am Ende wird das Konzept der Postautonomie „in der undogmatischen radikalen Linken“ erläutert.

Den Auftakt bildet ein zehnseitiger Beitrag des Protestforschers Wolfgang Kraushaar. Kraushaar versucht knapp, vor allem unter Rekurs auf die Militanz der „68er“, die Bezeichnung „Linke Militanz“ zu schärfen und kommt – ohne empirische Herleitung oder Verweis – stichpunktartig zur Erkenntnis, unter den aktuellen Akteuren der radikalen Linken habe sich eine spezifische „Figur des Gewaltakteurs“ (S. 41) durchgesetzt. Bei diesem handle es sich um einen „voluntaristisch bestimmten Typus“, der sich bereits „im Kontext der 68er-Bewegugung herausgeschält“ hatte (ebd.), und dem Gewalt zum Selbstzweck geworden sei.

Auf die Analyse radikal linker Akteure in der Weimarer Republik durch Marcel Bois folgt Hubert Kleinerts Beitrag zur Geschichte des linken Radikalismus und linkspolitisch motivierter Gewalt in der Geschichte der Bundesrepublik bis 1990. Kleinert, Experte für die Geschichte der Partei „Die Grünen“ (auch als früherer politischer Akteur), schließt in seine Analyse alle „Gruppierungen ein, die eine grundlegende systemisch-revolutionäre Veränderung der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik anstrebten“ (S. 107). Er zeigt, dass linkspolitische Protestbewegungen und Organisationsversuche bis weit in die 1960er-Jahre mehrheitlich im legalen Rahmen und ohne Gewaltanwendung stattfanden und sich erst danach radikalisierten. Die historischen Beiträge von Bois und Kleinert versachlichen die aktuellen Debatten um die radikale Linke – ein Anspruch des Sammelbandes –, indem sie zeigen, dass Aktionen und weltanschauliche Positionen in den vergangenen 100 Jahren einerseits stetigen Veränderungen unterworfen waren, andererseits als inkorporierte Ideen Eingang in die politische Kultur Deutschlands fanden. Damit bieten die Beiträge keine neuen Erkenntnisse, helfen aber dabei, aktuelle Phänomene in einen historischen Prozess einzuordnen und einen Dauerempörungsmodus zu dämpfen. Kleinerts historische Gesamtschau endet bei den Autonomen der 1980er-Jahre und der großen Demonstration gegen die Vereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 unter dem Motto „Deutschland, halt’s Maul“.

Die „Autonomen“ nimmt wiederum Julian Schenke in seinem Beitrag auf, der mit dem G20-Gipfel beginnt und anschließend auf die Geschichte in Hamburg eingeht. Dazu betrachtet er Orte und Akteure wie die Rote Flora und bindet sie in eine Art Stadtgeschichte ein. Die Aufrechterhaltung solcher Räume durch städtische Akteure – im Fall der Roten Flora durch den Kauf seitens der Lawaetz-Stiftung als Treuhänder im Jahr 2014 – wirft für Schenke die Frage auf, ob diese „überhaupt noch ‚eigentliche‘ autonome Orte sind“ (S. 162). Der lokalhistorische Ansatz verdeutlicht, wie ehemals als autonom bezeichnete Politik und Kultur sich in breitere Gesellschaftskreise vermittelt. Ein Stadtteil wie Hamburgs Schanzenviertel avancierte dabei zu einem eigenen linksalternativen, linksliberalen Touristenmagneten. Der Beitrag zeigt überdies, dass die Rede von einer „radikalen Linken“ durch viel schärfere analytische Begriffe – „marxistisch-leninistische, stalinistische und antiisraelische“ Linke (S. 167) – einen Mehrwert erhalten könnte.

Ähnlich wie Schenke in Bezug auf Hamburg rekonstruiert Tom Mannewitz in seinem Beitrag die „autonome Szene in Leipzig“, hier mit besonderem Fokus auf den bekanntesten Stadtteil Connewitz. Dieser zeichne sich durch ein Nebeneinander partiell ähnlicher, aber doch heterogener Milieus aus: „Linksradikale und Menschen, die das Sinus-Institut wohl dem liberal-intellektuellen (‚aufgeklärte Bildungselite‘), dem sozialökologischen und dem expeditiven Milieu (‚kreative Avantgarde‘) zuordnen würde, leben hier nebeneinander“ (S. 207). Damit macht Mannewitz deutlich, wie schwer sich eine „radikale Linke“ an konkreten Orten, in ihren weltanschaulichen Deutungen, ihren Lebensstilen und ihrem Habitus sozialwissenschaftlich-analytisch überhaupt von anderen Milieus und politischen Akteuren abgrenzen lässt. Zudem berichtet er über aktuelle linke Gruppierungen und Bündnisse wie „the future is unwritten“ oder „PRISMA“ und über die Themenfelder, die sie mittels verschiedener Formate öffentlich kommentieren. Auch in weiteren Beiträgen – beispielsweise jenem von Tom Pflicke, der die Hausbesetzungen von 1990 in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain beschreibt – wird die Überschneidung verschiedener Themenfelder in konkreten historischen Momenten deutlich, die von eben jener „radikalen Linken“ bearbeitet wurden und werden.

Im Kapitel „Europäische Fallbeispiele“ gehen Barbara Fontanellaz, Anna Carola König / Anne-Kathrin Meinhardt und Jens Gmeiner in drei Einzelbeiträgen auf aktuelle Entwicklungen der radikalen Linken in der Schweiz, in Italien und Schweden ein. Alle Beiträge leiten gegenwärtige Bündnisse, Strategien, Inhalte und Formen von Vergemeinschaftung – beispielsweise in sozialkulturellen Zentren – kurz historisch her. Zwar bieten die Beiträge in sich keinen Vergleich und keine europäische Verflechtungsgeschichte, aber in der Gesamtschau verdeutlichen sie die Ähnlichkeit der Entwicklungen der „radikalen Linken“ in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart der ausgewählten westeuropäischen Staaten.

Im abschließenden Kapitel, das etwas unbeholfen als „Kontinuitäten und Wandlungen“ bezeichnet wird – ein Verhältnis, dem ja letztlich alle Beiträge nachgehen –, analysiert Carsten Koschmieder Antisemitismus in der politischen Linken, Michael Lühmann Antifaschismus in Ostdeutschland und Alexander Deycke Postautonomie als Strategie der radikalen Linken seit den 1990er-Jahren. Mit „Postautonomie“ greift Deycke auf Selbstbeschreibungen aktueller – auch medial wahrgenommener – Gruppierungen zurück, etwa die „Interventionistische Linke“ und „…ums Ganze!“ (Selbstbezeichnung als „Kommunistisches Bündnis“). Diese Gruppen lassen sich von den ehemaligen Autonomen durch stärkere Theorieaffinität, die sich unter anderem in großen Kongressen ausdrückt, ebenso abgrenzen wie durch überregionale, bundesweite Vernetzungen und Kooperationen mit etablierten Akteuren. Ein positives „Verhältnis zum Begriff des Kommunismus“ (S. 395) bei gleichzeitiger Kritik des (Vulgär-)Marxismus prägt diese aktuellen Strömungen ebenso wie die Distanz zu militanten Aktionen.

Dem Sammelband hätte eine abschließende Bilanz oder Zusammenfassung gutgetan, selbst wenn die Herausgeber lediglich „Orientierungen im Feld der radikalen Linken“ geben wollen. So bleibt eine recht lose Sammlung zum Teil sehr guter Einzelbeiträge stehen, die aber in der Gesamtschau keine Systematik liefert – und damit eben auch kaum Orientierung hinsichtlich verschiedener fachwissenschaftlicher Debatten. Die unterschiedlichen Schlaglichter zeigen eher ein Potpourri dessen, was aktuell als „radikal links“ firmiert. Auch das kann wissenschaftlich hilfreich sein, um zu hinterfragen, wann die Bezeichnung „radikale Linke“ überhaupt sinnvoll ist, wenn sie nicht ausschließlich sicherheitspolitische Perspektiven reproduzieren will.

Anmerkungen:
1 Die „Bundesfachstelle“ wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; siehe http://www.linke-militanz.de (14.06.2021).
2 Vgl. u.a. René Schultens / Michaela Glaser (Hrsg.), „Linke“ Militanz im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen, Halle an der Saale 2013; Anne-Kathrin Meinhardt / Birgit Redlich (Hrsg.), Linke Militanz. Pädagogische Arbeit in Theorie und Praxis, Frankfurt am Main 2020.